Quick Dive: DGK-Kommentar zum akuten Koronarsyndrom

 

In unserer Reihe "Quick Dive" stellen die Autorinnen und Autoren von Publikationen medizinischer Fachgesellschaften prägnant die wichtigsten Hintergründe und Inhalte der jeweiligen Veröffentlichung vor. Dieses Mal wird eingetaucht in:

 

Kommentar zu den Leitlinien (2023) der ESC zum Akuten Koronarsyndrom (ACS)

24.9.2024 | Verfasst von: Sven Waßmann, Maria Rubini Gimenez, Salvatore Cassese, Alexander Ghanem, Stefanie Schüpke, Peter Ong, Stephan Henrik Schirmer, Holger Thiele, Julinda Mehilli


Von:

Melissa Wilke

HERZMEDIZIN-Redaktion

 

14.10.2024

 

Bildquelle (Bild oben): vovan / Shutterstock.com

5 Fragen an den Erstautor

PD Dr. Sven Waßmann, München

 

Was sind Anlass und Ziel der Publikation?

 

Im August 2023 wurde die neue Leitlinie der ESC zum „Akuten Koronarsyndrom“ veröffentlicht, die in der aktuellen Publikation zusammengefasst und kommentiert wird.

 

Was sind die wichtigsten Take-Home Messages?

 

  1. Die aktuelle ESC-Leitlinie zum akuten Koronarsyndrom (ACS) von 2023 beschreibt das ACS als ein Krankheitsspektrum und fasst daher erstmals die Empfehlungen zum Management von Patientinnen und Patienten mit ST-Hebungsinfarkt (STEMI) und Nicht-ST-Hebungs-ACS (NSTE-ACS) in einer Leitlinie zusammen.
  2. Als neues Konzept der Leitlinie werden die verschiedenen wichtigen Handlungsstränge im Management der an ACS erkrankten Personen definiert und zentral dargestellt (siehe Abbildung).
  3. Bei der Klassifikation und Diagnosestellung des ACS gibt es keine wesentlichen Veränderungen. In der Labordiagnostik wird der ESC 0 h/1 h-Algorithmus unter Verwendung hochsensitiver kardialer Troponine hervorgehoben.
  4. Die Empfehlungen für den optimalen Zeitpunkt einer Koronarangiographie und -revaskularisation wurden angepasst. Für Patientinnen und Patienten mit STEMI gelten die gleichen Zeitgrenzen. Bei Erkrankten mit NSTE-ACS und hohem Risiko ist das invasive Management innerhalb von 24 Stunden nur noch eine Kann-Empfehlung, wohingegen bei Patientinnen und Patienten mit sehr hohem Risiko weiterhin eine sofortige invasive Abklärung empfohlen wird. Bei Betroffenen, die einen plötzlichen Herztod außerklinisch überlebt haben und keine ST-Hebungen oder einen kardiogenen Schock aufweisen, wird keine sofortige Koronarangiographie empfohlen. Bei Personen mit STEMI und koronarer Mehrgefäßerkrankung wird eine vollständige Revaskularisation während der Indexprozedur oder innerhalb der ersten 6 Wochen nach ACS empfohlen. Die Verwendung einer intravaskulären Bildgebung wurde aufgewertet.
  5. Bei Erkrankten mit schwerem oder therapie-refraktärem kardiogenen Schock wird aufgrund kontroverser Daten eine transiente mechanische Kreislaufunterstützung nicht als evidenzbasierte Routineversorgung empfohlen, kann aber für ausgewählte Patientinnen und Patienten weiterhin erwogen werden.
  6. Aufgrund einer Vielzahl neuer klinischer Studien wird eine individuelle antithrombotische Therapie unter Verwendung verschiedener Deeskalationsstrategien in Abhängigkeit des ischämischen Risikos und des Blutungsrisikos empfohlen. Bei Patientinnen und Patienten ohne Antikoagulation gilt als Standard weiterhin eine duale Plättchenhemmung (DAPT) für 12 Monate; eine Verkürzung der DAPT auf 1 bis 6 Monate ist aber insbesondere bei hohem Blutungsrisiko möglich. Zudem kann ein Wechsel von einem potenten P2Y12-Inhibitor (Prasugrel oder Ticagrelor) auf Clopidogrel erfolgen. Nur im ersten Monat nach ACS ist keine Änderung der DAPT empfohlen.
  7. Der Myokardinfarkt mit nicht-obstruktiven Koronararterien (MINOCA) wird dezidiert mit einem (invasiven und nicht-invasiven) diagnostischen Algorithmus sowie den daraus resultierenden therapeutischen Optionen behandelt.
  8. Die langfristige Nachsorge nach ACS hat in der neuen Leitlinie einen erheblich höheren Stellenwert erhalten. Zur Steigerung der Therapieadhärenz wird die Verwendung von medikamentösen Kombinationspräparaten empfohlen. Zudem sollten unverzüglich nach dem ACS sekundärpräventive Maßnahmen eingeleitet werden. Während der LDL-Cholesterin-Zielwert < 55 mg/dl (1,4 mmol/l) unverändert geblieben ist, so wird neu eine Intensivierung der cholesterinsenkenden Therapie bereits während der Indexhospitalisierung empfohlen. Nachfolgend sollte die erste Laborkontrolle bereits nach 4 bis 6 Wochen durchgeführt werden, um gegebenenfalls die Therapie weiter zu intensivieren. Neu aufgenommen wurde die Option einer anti-inflammatorischen Therapie bei rezidivierenden kardiovaskulären Ereignissen trotz optimaler sekundärpräventiver Therapie.
  9. Weitere wichtige Aspekte der Leitlinie umfassen spezifische klinische Szenarien, wie z.B. Komplikationen, Komorbiditäten und spezielle Patientenpopulationen und erstmals auch ausführlich die Patienten-Perspektiven, was die Einbeziehung der Betroffenen in Behandlungsentscheidungen betont.

 

Eine zentrale Abbildung aus der Publikation:

ACS als Spektrum

Abb.: ACS = akutes Koronarsyndrom; CABG = koronararterielle Bypass-Operation; EKG = Nicht-ST-Strecken-Hebungsinfarkt; PCI = perkutane Koronarintervention; STEMI = ST-Strecken-Hebungsinfarkt; UFH = unfraktioniertes Heparin. Aus: ESC Pocket Guideline – Akutes Koronarsyndrom (deutsche Version). Byrne et al., 2023 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes. Eur Heart J. 44:3720-3826 

Was sind Herausforderungen bei der Umsetzung und mögliche Lösungen?

 

Trotz einer nahezu flächendeckenden Versorgung mit 24-Stunden-PCI-Zentren in Deutschland liegt die Rate an Invasivdiagnostik und damit die Reperfusionsrate insbesondere beim NSTE-ACS, nicht im gewünschten Bereich, auch wenn die Zahlen kontinuierlich ansteigen. Hier sind weitere Verbesserungen in der Akuttherapie erforderlich. Für das Langzeitmanagement nach ACS sind die sekundärpräventiven Therapieziele bekannt und klar formuliert. In Deutschland erreichen allerdings leider nur weniger als 20 % der Hoch-Risiko-Patientinnen und -Patienten die entsprechenden LDL-Cholesterin-Zielwerte. Daher sind weitere Anstrengungen, wie „Deutschland auf Ziel“ und die wichtigen Aktivitäten im Rahmen der Nationalen Herz-Allianz der DGK zwingend notwendig.

 

Welche Punkte sind offengeblieben?

 

Wichtige offengebliebene Themen sind beispielhaft der optimale Zeitpunkt einer vollständigen Revaskularisation bei ACS und koronarer Mehrgefäßerkrankung, der Nutzen mechanischer Kreislaufunterstützungssysteme beim kardiogenen Schock, die optimale antithrombotische Therapie nach ACS, die optimale Strategie für die Behandlung alter Patientinnen und Patienten und vor allem geschlechtsspezifische Unterschiede.

 

Ausblick: Welche Entwicklungen zum Thema zeichnen sich ab?

 

Zu den oben genannten Punkten laufen bereits eine Vielzahl klinischer Studien oder sind in Vorbereitung, wichtige Real-World-Daten aus großen Registern werden generiert und Aktivitäten zur verbesserten Umsetzung der Leitlinienempfehlungen (z. B. im Rahmen der Nationalen Herz-Allianz) werden intensiviert.

Weiter zur vorgestellten Publikation:

Kommentar zu den Leitlinien (2023) der ESC zum Akuten Koronarsyndrom (ACS)

Literaturnachweis: Wassmann S., Rubini Gimenez M., Cassese S., et al.
Kommentar zu den Leitlinien (2023) der ESC zum Akuten Koronarsyndrom (ACS)
Kardiologie (2024) https://doi.org/10.1007/s12181-024-00705-9

 

Zur Person

PD Dr. Sven Waßmann

Privatdozent Dr. Sven Waßmann ist nach leitenden Positionen an der Universitätsklinik Bonn, der McGill University Montréal und dem Isar Herz Zentrum München seit 2016 als niedergelassener Kardiologe in der Herzpraxis Pasing in München tätig. Er besitzt die Zusatzqualifikationen für Interventionelle Kardiologie und Herzinsuffizienz und ist in verschiedenen Gremien der ESC und der DGK tätig.


Kurzinfo: Die Formate der DGK-Publikationen

Leitlinien sind für Ärztinnen und Ärzte eine wichtige Stütze im klinischen Alltag, um ihre Patientinnen und Patienten nach neuestem Stand der Wissenschaft bestmöglich zu behandeln. Dabei dienen die Leitlinien als verlässliche Handlungsempfehlungen in spezifischen Situationen.

Pocket-Leitlinien sind Leitlinien in kompakter, praxisorientierter Form. Bei Übersetzungen von Pocket-Leitlinien der ESC werden alle Empfehlungsklassen und Evidenzgrade der Langfassung übernommen.

Master Pocket-Leitlinien stellen eine Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte der Leitlinienempfehlungen in Form von grafischen Diagnose- und Therapiealgorithmen dar. Als Quelle der Empfehlungen dienen dabei vorwiegend die nach strengen wissenschaftlichen Kriterien erstellten Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) sowie deren deutsche Übersetzung durch die DGK.

CardioCards behandeln im Wesentlichen Themen der Diagnostik und Akuttherapie für den ambulanten Bereich. Hier werden die essenziellen Informationen von Leitlinien komprimiert und übersichtlich zusammengefasst.

Kommentare beinhalten Hinweise, wie sich die neuen von den alten Leitlinien unterscheiden, Hinweise auf wesentliche Neuerungen, die seit dem Erscheinen der ESC-Leitlinien bekannt geworden sind, Diskussion kontroverser Empfehlungen in den ESC-Leitlinien sowie Möglichkeiten und Grenzen der Leitlinienumsetzung im Bereich des deutschen Gesundheitswesens.

Ein Positionspapier behandelt eine Fragestellung von großem allgemeinen Interesse, für die keine aktuelle Leitlinie vorliegt.

Bei einem Konsensuspapier handelt es sich um ein von mehreren Fachgesellschaften getragenes Statement.

Diese Veröffentlichungen enthalten Empfehlungen einer DGK-Arbeitsgruppe zu einer speziellen Frage von großem Interesse.

Stellungnahmen der DGK beziehen sich auf gesundheitspolitische Fragestellungen und erfolgen durch den Vorstand, gemeinsam mit Kommissionen und Projektgruppen. Sofern möglich und sinnvoll, werden auch Fachgesellschaft-übergreifende Stellungnahmen ausgearbeitet.

Ein Manual ist eine praktisch orientierte Expertenempfehlung für wesentliche kardiovaskuläre Prozeduren.

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