ESC-Konsensus 2025: Mentale Gesundheit rückt stärker ins Zentrum der Herzmedizin

 

ESC Congress 2025 | Clinical Consensus Statement: Auf dem ESC-Kongress 2025 in Madrid stand ein bedeutsames Thema im Rampenlicht, das bislang oft unterschätzt wurde: die enge Verknüpfung von psychischer Gesundheit und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Mit diesem neuen Konsensuspapier macht die European Society of Cardiology (ESC) deutlich, dass Herzmedizin nicht länger ohne die systematische Berücksichtigung psychischer Belastungen und mentaler Faktoren gedacht werden kann.1 Unterstützt wurde das Dokument von der European Psychiatric Association (EPA), der European Federation of Psychologists’ Associations (EFPA) und der International Society of Behavioral Medicine (ISBM).

Von:

Dr. Omar Hahad,
Dr. Jasmin Ghaemi Kerahrodi,
Dr. Julia Lurz

Universitätsmedizin Mainz

 

04.09.2025

 

Bildquelle (Bild oben): Songquan Deng / Shutterstock.com

Zwei Seiten einer Medaille

 

Herz und Psyche sind untrennbar miteinander verbunden. Zahlreiche Studien zeigen, dass psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder chronischer Stress das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall deutlich erhöhen. Dieser Zusammenhang wirkt aber auch in die andere Richtung: Wer ein akutes kardiales Ereignis erleidet, ist sehr häufig auch psychisch belastet. Nach einem akuten kardialen Ereignis geraten viele Betroffene in einen Teufelskreis aus körperlichem Vermeidungsverhalten, seelischer Erschöpfung, nachlassender Therapietreue und schlechteren Krankheitsverläufen. Ohne professionelle Unterstützung ist es meist schwer, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Genau hier setzt das neue ESC-Dokument an: Die mentale Gesundheit gehört künftig stärker ins Zentrum der kardiovaskulären Versorgung. Neben Risikofaktoren spielen auch protektive Faktoren wie Resilienz – etwa durch eine optimistische Lebenseinstellung – sowie ein starkes soziales Umfeld eine wichtige Rolle für die Herzgesundheit.

Teams für Körper und Seele

 

Ein zentrales Signal des Konsensuspapiers ist die Empfehlung, interdisziplinäre psychokardiologische Teams aufzubauen. Hier arbeiten Kardiologinnen Hand in Hand mit Psychosomatikern, Psychologinnen, Psychiatern und Pflegefachkräften. Gemeinsam sollen die Patientinnen und Patienten ganzheitlich begleitet werden. Zur Orientierung dient das ACTIVE-Prinzip, das vom Bewusstsein für die Zusammenhänge über systematisches Screening auf psychische Belastungsfaktoren mit validierten Instrumenten (z. B. PHQ-9 für Depression oder GAD-7 für Angst) bis hin zur Umsetzung individueller Therapien und deren Evaluation reicht.

Ebenso wichtig ist, dass Einrichtungen die nötigen Strukturen und Ressourcen schaffen und klinische Verläufe konsequent überprüft werden. In Deutschland ist die Psychokardiologie im internationalen Vergleich bereits stärker etabliert und wird beispielsweise durch die DGK-Arbeitsgruppe Psychosoziale Kardiologie (AG 30) repräsentiert. In den letzten Jahren wurden aktuelle Positionspapiere der DGK und der European Association of Preventive Cardiology (EAPC) sowie zahlreiche Beiträge aus der psychosomatischen Forschung veröffentlicht. Dennoch ist das Fachgebiet, anders als etwa die Psychoonkologie, noch nicht flächendeckend verankert. Allerdings erschweren Finanzierungs- und gesundheitspolitische Strukturfragen die Umsetzung einer flächendeckenden Patientenversorgung trotz des erwiesenermaßen hohen Bedarfs.

Psychosoziale Belastungen als ernstzunehmendes Risiko

 

Das Konsensuspapier untermauert die klare Botschaft, psychosoziale Belastungen auf die gleiche Stufe wie die „klassischen“ Risikofaktoren zu stellen. Chronischer Stress, vitale Erschöpfung, psychische Störungen, traumatische Erfahrungen, Einsamkeit, negative Affektivität, Jobunsicherheit und Diskriminierung wirken sich messbar auf Herz und Gefäße aus. Große Metaanalysen zeigen, dass sich das Risiko unter solchen Bedingungen mehr als verdoppeln kann. Für die Herzmedizin bedeutet das, Risikoprofile künftig breiter und individueller zu erfassen.

Screening und Behandlung – nicht einmalig, sondern fortlaufend

 

Die Task Force empfiehlt ein wiederholtes Screening auf Depressionen, Angst und Stressbelastung bei allen Patientinnen und Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Diese sind niederschwellig einsetzbar und es lassen sich damit effektiv Veränderungen im Krankheitsverlauf frühzeitig erkennen. In der Behandlung setzt das Konsensuspapier auf ein gestuftes Vorgehen: von Aufklärung und niedrigschwelliger Unterstützung über Lebensstilprogrammen mit Bewegung, gesunder Ernährung, Schlafhygiene und Nikotinkarenz bis hin zu psychotherapeutischen Verfahren und Rehabilitationsmaßnahmen. Auch Medikamente haben bei entsprechender Indikation einen Stellenwert, wobei gerade bei Herz-Kreislauf-Patientinnen und -Patienten wegen möglicher kardiovaskulärer Nebenwirkungen besondere Vorsicht und ein engmaschiges Monitoring geboten sind.

Besonders gefährdete Gruppen

 

Besondere Aufmerksamkeit gilt Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder bipolaren Störungen. Sie haben ein 2–3-fach erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sind aber häufig unterversorgt. Stigmatisierung, eingeschränkter Zugang zu Prävention, eingeschränkte Compliance und Nebenwirkungen mancher Psychopharmaka verschlechtern ihre Situation zusätzlich. Das Konsensuspapier empfiehlt für sie engmaschige Kontrollen und abgestimmte Therapien im interdisziplinären Team. Auch andere Gruppen stehen im Fokus: Frauen mit spezifischen Krankheitsbildern wie peripartaler Kardiomyopathie oder Takotsubo-Syndrom (das zwar überwiegend Frauen betrifft, aber auch bei Männern auftreten kann), ältere Menschen mit Multimorbidität, sozioökonomisch benachteiligte Personen, Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchtete. Hinzu kommen Krebspatientinnen und -patienten, die durch ihre Erkrankung psychisch belastet sind und zugleich mit kardiotoxischen Therapien konfrontiert werden.

Ein Paradigmenwechsel in der Herzmedizin

 

Mit diesem Konsensuspapier rückt die ESC die psychische Gesundheit stärker ins Zentrum der Kardiologie. Es bedeutet einen wichtigen Schritt in Richtung eines Paradigmenwechsels: weg von einer rein organzentrierten Sichtweise, hin zu einer modernen Herzmedizin, die Körper und Seele gleichermaßen berücksichtigt. Screening, interdisziplinäre Teams und gestufte Therapiekonzepte bilden die Grundlage, um Patientinnen und Patienten besser, individueller und nachhaltiger zu versorgen. Die Botschaft ist klar: Herzgesundheit braucht eine gesunde Psyche – und eine deutlich stärkere Forschungsagenda, um diese Erkenntnisse in die Versorgungspraxis zu überführen. In Deutschland ist die Entwicklung jedoch nicht nur von Fortschritten, sondern auch von Rückschritten geprägt: So wurde das Leuchtturmprojekt für psychokardiologische Rehabilitation in Göttingen erst kürzlich eingestellt. Umso wichtiger ist es, den medizinischen Nachwuchs frühzeitig für die Bedeutung psychischer Gesundheit in der Kardiologie zu sensibilisieren und gezielt auszubilden. Notwendig sind darüber hinaus flächendeckende Strukturen sowie eine verlässliche Finanzierung, um die Psychokardiologie dauerhaft in der Versorgung zu verankern.

Zur Person

Dr. Omar Hahad

Dr. Omar Hahad ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Kardiologie an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen umweltbedingte Risikofaktoren für Herz-Kreislauf- und neuropsychiatrische Erkrankungen. 

Bildquelle: Ronny Kretschmer / HKM

Zur Person

Dr. Jasmin Ghaemi Kerahrodi

Dr. Jasmin Ghaemi Kerahrodi ist Oberärztin an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Sie leitet die psychosomatische Ambulanz und den Konsildienst mit Schwerpunkten Psychotherapie und Psychokardiologie.

Bildquelle: Ronny Kretschmer / HKM

Zur Person

Dr. Julia Lurz

Dr. Julia Lurz ist Oberärztin an der Universitätsmedizin Mainz und angestellte Ärztin im MVZ CCB am Markus Krankenhaus in Frankfurt a. M. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin und Kardiologie mit Zusatzbezeichnung Notfallmedizin. Ihre Schwerpunkte liegen in der Psychokardiologie sowie in der Elektrophysiologie.

Bildquelle: Ronny Kretschmer / HKM

Referenzen

  1. Bueno H et al, ESC Scientific Document Group , 2025 ESC Clinical Consensus Statement on mental health and cardiovascular disease: developed under the auspices of the ESC Clinical Practice Guidelines Committee: Developed by the task force on mental health and cardiovascular disease of the European Society of Cardiology (ESC) Endorsed by the European Federation of Psychologists' Associations AISBL (EFPA), the European Psychiatric Association (EPA), and the International Society of Behavioral Medicine (ISBM), European Heart Journal, 2025;, ehaf191, https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehaf191
  2. Kindermann, I., Köllner, V., Albus, C. et al. Bedeutung von psychosozialen Faktoren in der Kardiologie – Update 2024. Kardiologie 18, 412–443 (2024). https://doi.org/10.1007/s12181-024-00708-6
  3. Ladwig KH, Baghai TC, Doyle F, et al. Mental health-related risk factors and interventions in patients with heart failure: a position paper endorsed by the European Association of Preventive Cardiology (EAPC). Eur J Prev Cardiol. 2022;29(7):1124-1141. doi:10.1093/eurjpc/zwac006 
  4. Levine GN, Cohen BE, Commodore-Mensah Y, et al. Psychological Health, Well-Being, and the Mind-Heart-Body Connection: A Scientific Statement From the American Heart Association. Circulation. 2021;143(10):e763-e783. doi:10.1161/CIR.0000000000000947

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