Warum sind medizinische Leitlinien wichtig?

Die Medizin entwickelt sich mit rasender Geschwindigkeit weiter. Wie bleiben Ärztinnen und Ärzte auf dem aktuellen Stand der Forschung? Die Antwort: medizinische Leitlinien. Wer sie erstellt und was sie für den Alltag in Kliniken und Praxen bedeuten.

Von Jonas Heinrich

 

03.11.2023


Bildquelle (Bild oben): iStock/megaflopp

Was sind medizinische Leitlinien?

Die medizinische Forschung steht niemals still: Neue Erkenntnisse können bewirken, dass eine bestimmte Erkrankung fortan anders behandelt wird, beispielsweise mit innovativen Operationsmethoden oder neuen Medikamenten. Doch wie gelangen diese wichtigen Informationen in die Arztpraxen und Kliniken?

 

„Das medizinische Wissen verdoppelt sich etwa alle 73 Tage. Keine Ärztin, kein Arzt kann sich im Praxis- oder Klinikalltag alle neuen Studien durchlesen. Hier kommen medizinische Leitlinien ins Spiel“, sagt Prof. Stephan Achenbach, Direktor der Medizinischen Klinik 2 (Kardiologie und Angiologie) des Universitätsklinikums Erlangen. Von 2020 bis 2022 war er Präsident der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) ­– jener Institution, die kontinuierlich an neuen medizinischen Leitlinien arbeitet und sie den Fachgesellschaften der einzelnen Länder zur Verfügung stellt.

 

Zur schieren Anzahl der Studien kommt hinzu, dass alle Ärztinnen und Ärzte ihre Spezialgebiete haben: „Selbst ein Kardiologe ist kein Experte auf jedem Teilgebiet der Kardiologie. Wenn man sich nicht als Experte mit einem Teilgebiet wissenschaftlich beschäftigt, ist es sehr schwer, Studienergebnisse einzuordnen. Hier leisten medizinische Leitlinien Hilfestellung. Sie ermöglichen den Transfer von Forschungsergebnissen in den Klinikalltag“, sagt Prof. Achenbach. Leitlinien sind somit die Brücke zwischen Forschenden und medizinischen Fachkräften, zwischen Theorie und Praxis.

Porträt von Prof. Dr. med. Stephan Achenbach Prof. Dr. med. Stephan Achenbach, Direktor der Medizinischen Klinik 2 (Kardiologie und Angiologie) des Universitätsklinikums Erlangen. Bildquelle: Simone Kessler / Universität Erlangen

Welchen Zweck haben die Leitlinien in der Medizin?

Medizinische Leitlinien sollen die Patientenversorgung verbessern. Nur wenn Ärztinnen und Ärzte auf dem neuesten Stand der Forschung sind, können sie ihren Patientinnen und Patienten eine zeitgemäße und möglichst effektive Behandlung bieten. Hinzu kommt die Zeitersparnis: „Anstatt tausende von Studien durchzuwälzen, lesen Ärztinnen und Ärzte einfach die neuesten Leitlinien. Mit der gesparten Zeit können wir wiederum mehr Patientinnen und Patienten behandeln“, sagt Prof. Achenbach. Dadurch erhöhen Leitlinien gleichzeitig die Effizienz und die Effektivität der medizinischen Versorgung.

 

Wie häufig erscheinen neue medizinische Leitlinien?

Neue Leitlinien zu den verschiedenen Erkrankungen erscheinen in der Regel alle vier bis fünf Jahre. „Ärztinnen und Ärzte, die diese Leitlinien lesen, sind dann auf dem neuesten Stand der Forschung und bekommen konkrete Anweisungen, wie sie die entsprechenden Krankheiten bestmöglich behandeln können“, sagt Prof. Achenbach. Da jedes Jahr hunderte oder gar tausende neue Studien zu einem Thema erscheinen, kann es allerdings sein, dass die Leitlinien schnell veraltet sind. Aus diesem Grund diskutieren Expertinnen und Experten darüber, die Intervalle zwischen den Veröffentlichungen zu verkürzen. Dadurch würde jedoch der Aufwand erheblich ansteigen und es wäre für klinisch tätige Kardiologinnen und Kardiologen schwieriger, sich mit einer Leitlinie vertraut zu fühlen. Die Attraktivität von Leitlinien würde deshalb vermutlich nachlassen. Zudem spricht dagegen, dass manch vermeintlich bahnbrechendes Studienergebnis kurze Zeit später durch weitere Studien widerlegt wird. So könnte es sein, dass Behandlungsmethoden unnötigerweise geändert und in der nächsten Leitlinie wieder angepasst werden müssten.

 

Wie entstehen medizinische Leitlinien?

Um Studien richtig einordnen und Behandlungsmethoden gegeneinander abwägen zu können, ist ein enormes Fachwissen von Nöten. Aus diesem Grund kommen zahlreiche Expertinnen und Experten der entsprechenden Fachgesellschaften zusammen, um die medizinischen Leitlinien zu erstellen. „Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie verfasst die Leitlinien für sämtliche Herz-Erkrankungen und die Fachgesellschaften der einzelnen Staaten übernehmen diese weitestgehend, so auch die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK)“, erklärt Professor Achenbach. „Der gesamte Prozess dauert etwa zwei Jahre. Währenddessen stellen rund 30 Autorinnen und Autoren sowie zusätzlich zahlreiche Gutachterinnen und Gutachter ihre Freizeit und ihr Expertenwissen zur Verfügung.“ Dieser enorme Aufwand und das gebündelte Fachwissen der Beteiligten gewährleisten, dass das Endprodukt, also die jeweilige Leitlinie, den höchsten Qualitätsstandards entspricht.

 

Müssen Kardiologinnen und Kardiologen nach den Leitlinien handeln?

Medizinische Leitlinien enthalten Handlungsempfehlungen für die Praxis. Kardiologinnen und Kardiologen müssen jedoch stets den Einzelfall mitsamt Vorgeschichte und Begleiterkrankungen betrachten und für jede Patientin und jeden Patienten einen individuellen Behandlungsplan erstellen. „Die Leitlinien bilden die optimale Versorgung für den ‚Durchschnittspatienten‘ ab. Zum Beispiel ist die Vorgabe, dass bei einer stark erweiterten Hauptschlagader (Aorta) ab einem Durchmesser von 55 mm oder mehr operiert werden soll. Sitzt vor mir allerdings ein 90-jähriger Patient mit erweiterter Aorta, muss ich das Komplikationsrisiko der Operation und den Nutzen ganz klar abwägen. Dies ist nur ein ganz einfaches Beispiel, aber bei allen Patientinnen und Patienten müssen wir entscheiden: Trifft die Leitlinie auf diese Person zu oder gibt es Gründe, davon abzuweichen?“, erklärt Prof. Achenbach. Die individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen der Patientin oder des Patienten fließen somit immer in die Entscheidungsfindung ein, ebenso die Wünsche, Sorgen und Ziele der Patientinnen und Patienten.

 

Wichtig ist natürlich auch, dass bahnbrechende Studienergebnisse nach gründlicher Abwägung des Einzelfalls eventuell bereits Anlass geben können, die Diagnostik oder Therapie zu verändern, auch wenn sie sich noch nicht in einer neuen Leitlinie finden.

 

Welche Leitlinien haben sich in den letzten Jahren besonders stark verändert?

Nicht immer verändern neue medizinische Leitlinien die Vorgehensweise der Ärztinnen und Ärzte grundlegend. Die Behandlung einiger Herzerkrankungen hat sich allerdings in den vergangenen Jahren maßgeblich verbessert: „So hat sich beispielsweise in der Therapie von Herzinfarkten viel getan. Sie werden nicht mehr mit einer starken Blutverdünnung behandelt, sondern vorzugsweise im Katheterlabor versorgt, um das Gefäß wieder zu eröffnen. Dies senkt das Komplikationsrisiko erheblich und führt häufiger zum erwünschten Behandlungserfolg“, sagt Prof. Achenbach. Auch die Herzschwäche (Herzinsuffizienz) wird nun anders behandelt: „Die aktuellen Leitlinien empfehlen nun die medikamentöse Behandlung mit sogenannten SGLT-2-Inhibitoren. Diese lindern die Symptome einer Herzinsuffizienz erheblich und gemäß den veröffentlichten Studien reduzieren sie die Anzahl der Krankenhauseinweisungen sowie die Sterblichkeit der Patientinnen und Patienten.“ Solche Verbesserungen in der Patientenversorgung führen dazu, dass sich nicht nur die Lebensdauer, sondern auch die Lebensqualität der Betroffenen erhöht.

 

Gibt es auch Leitlinien für Patienten und Angehörige?

Für einen möglichst günstigen Krankheitsverlauf ist neben der ärztlichen Behandlung die Mitarbeit der Betroffenen und ihrer Angehörigen wichtig. Eine gute Kenntnis der eigenen Erkrankung gehört dazu. Das haben auch die Fachgesellschaften erkannt und stellen in zunehmendem Maße Leitlinien in Laiensprache zur Verfügung. „Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie stellt sogenannte ‚Patient Pages‘ zur Verfügung, unter anderem für die Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen. Diese Patienteninformationen enthalten die wichtigsten Punkte der entsprechenden Leitlinien, aufbereitet für Laien“, sagt Prof. Achenbach. Die Patientenleitlinien klären zudem über Maßnahmen auf, mit denen Betroffene selbständig ihren gesundheitlichen Zustand verbessern und ihr Risiko für weitere Komplikationen senken können: „Bei Herzschwäche etwa setzte man früher auf Schonung und hat jegliche Belastung vermieden. Heute wissen wir, dass körperliche Betätigung bei Herzschwäche extrem wichtig ist. Das sollte jede Patientin und jeder Patient wissen“, sagt Prof. Achenbach. Die entsprechenden Patientenleitlinien zu verschiedenen Erkrankungen finden Sie auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften.

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