Es heißt: Im Durchschnitt braucht es 15 Jahre, bis aus einer guten Idee eine neue Therapie wird. Aber warum dauert das so lang? Welche Schritte sind notwendig, damit Forschung sicher im Patientenalltag ankommt?
Es heißt: Im Durchschnitt braucht es 15 Jahre, bis aus einer guten Idee eine neue Therapie wird. Aber warum dauert das so lang? Welche Schritte sind notwendig, damit Forschung sicher im Patientenalltag ankommt?
Von Kerstin Kropac
21.12.2023
Bildquelle (Bild oben): iStock/RossHelen
Die sogenannte Translation beschreibt die Übertragung vom ersten wissenschaftlichen Forschungsergebnis in die allgemeine medizinische Versorgung – das kann eine Diagnostikmethode betreffen oder ein Medikament. Am Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz (DZHI) am Uniklinikum Würzburg leitet Prof. Christoph Maack die translationale Forschung. Der Kardiologe zeichnet für Herzmedizin.de den langen Weg von der Idee in die Praxis nach.
„Bei der Translation geht es darum, die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung zu den Patientinnen und Patienten zu bringen. Das können sowohl neu entwickelte Diagnostikmethoden als auch Medikamente sein“, erklärt Prof. Maack. „Sie sollten auf Mechanismen beruhen, die auch auf die meisten Menschen übertragbar sind und sollten natürlich klinisch fassbare Effekte haben.“ Bevor solche neuen Verfahren in Klinik und Praxis ankommen, müssen sie zwei Phasen der Translation durchlaufen. Die erste Phase ist die von der Idee zur Zulassung, also von der ersten Erkenntnis im Labor zu einer erfolgreich abgeschlossenen Phase-III-Studie an einem größeren Patientenkollektiv. In der Phase-III-Studie wird die Wirksamkeit und Verträglichkeit erforscht, indem Patientinnen und Patienten behandelt und mit einer Kontrollgruppe verglichen werden. Die zweite („späte“) Phase ist die sogenannte Late Translation. „Hier ist das Ziel, dass die neuen Diagnostik- oder Therapieverfahren auch von den Hausärztinnen und Hausärzten angewendet und eingesetzt werden“, erklärt der Kardiologe.
Die Entwicklung neuer medizinischer Verfahren benötigt sehr viel Zeit. „Um die Arbeit der Forschenden besser erklären zu können, schauen wir uns beispielhaft Hormone an, die mittlerweile gut erforscht sind: das Noradrenalin und die natriuretischen Peptide ANP und BNP“, sagt Prof. Maack. Diese Hormone werden bei der Herzschwäche vermehrt ausgeschüttet. „Nun stellen Sie sich vor: Wir sind am Anfang unserer Forschungsarbeit und glauben, dass diese Hormone an den Krankheitsmechanismen der Herzinsuffizienz beteiligt sein könnten. Wir sehen: Je höher diese Hormonwerte sind, desto kränker ist der Mensch“, erklärt der Kardiologe. „Dann wissen wir erst einmal nicht: Ist es die Überregulierung dieses Hormons, die den Menschen krank macht? Oder wird das Hormon durch das Fortschreiten der Krankheit ausgeschüttet, übt aber vielleicht sogar einen schützenden Effekt aus?“ Den Forschenden ist also im ersten Schritt nicht klar, welche Rolle die Hormone genau spielen. Sie wissen nur: sie könnten eine Rolle spielen. Und das Ziel ist es, aus dieser Vermutung langfristig eine neue Therapie für Herzinsuffizienz-Patientinnen und Patienten zu entwickeln.
Um einen bestimmten Wirkmechanismus zu erforschen, versucht man zuerst, ihn im Zell- oder Mausmodell zu simulieren. Prof. Maack erklärt: „Wir bleiben bei unserem Beispiel mit den Hormonen Noradrenalin und ANP beziehungsweise. BNP. Behandeln wir die Tiere mit Noradrenalin oder überexprimieren die sogenannten β1-Adrenozeptoren, entwickeln diese eine Herzinsuffizienz. Diese Ergebnisse unterstützten das therapeutische Konzept, die Beta-Rezeptoren mit Beta-Blockern zu blockieren, was ihr Überleben verlängert – und im Notfall die intensivmedizinisch übliche Stimulation der Beta-Rezeptoren mit Noradrenalin und anderen Substanzen nur so kurz wie möglich durchzuführen. Bei ANP und BNP ist es entgegengesetzt: Die Erkenntnis, dass diese Hormone schützend wirken, ermutigte die Entwicklung von Medikamenten, die deren Abbau im Körper hemmen – wie die Substanz Sacubitril, die mit dem Angiotensin-Rezeptor-Blocker Valsartan kombiniert wird. Tatsächlich wurden beide Therapiekonzepte in Zeiten entwickelt, in denen sie noch keine umfassende vorklinische Validierung durchliefen. Doch sie symbolisieren die Notwendigkeit, systematisch die pathophysiologische Bedeutung von Biomarkern zu durchleuchten und gegebenenfalls entsprechend stimulierende oder inhibierende Therapien daraus abzuleiten. Ein aktuelleres Beispiel hierfür ist die Entwicklung eines Wirkstoffs durch Prof. Thomas Thum (Hannover), der die microRNA-132 blockiert, da diese microRNA bei Herzinsuffizienz heraufreguliert ist und im Tiermodel eine Herzinsuffizienz verursacht.“
„Wenn beispielsweise ein spannendes Enzym entdeckt und hierfür ein passgenaues Medikament entwickelt wird, kann das durchaus zehn Jahre oder sogar länger dauern“, erklärt Prof. Maack. Der erste Schritt der Forschenden: das Screening sogenannter Medikamenten-Libraries. „Viele Pharmafirmen haben ein Arsenal von Molekülen, die irgendwann in der Chemie entwickelt wurden. Einige von denen sind schon als Medikamente bei anderen Erkrankungen im Einsatz. Andere haben es vielleicht nicht ganz bis zur Marktreife gebracht“, erklärt der Forscher. „Durch diese Libraries steht ein Arsenal von mehreren tausend Substanzen zur Verfügung, die im Hochdurchsatz-Screening (‚high throughput‘) getestet werden können, ob sie ein bestimmtes Enzym hemmen. Und wenn man beispielsweise 4.000 Screens hat, findet man vielleicht fünf oder zehn, die das Enzym inhibieren.“ In der Folge schaut man sich die Reaktion in einem Zellsystem an. Später testet man eventuell an der Maus, wie die auf den Wirkstoff reagiert. „Zeigt der Wirkstoff den erhofften Effekt, muss man mittlerweile meist in ein Großtiermodel – zum Beispiel ins Schwein – gehen, um zu untersuchen, ob dieses Medikament auch in diesem höheren Organismus wirkt“, erklärt Prof. Maack. Und erst dann werden die Substanzen in klinischen Studien getestet, zunächst auf Sicherheit (in Phase I) und anschließend auf Wirksamkeit und gegebenenfalls auch auf die Prognose (Phase II und III).
„Tatsächlich gibt es Medikamente, die in klinischen Studien ihre Wirksamkeit bewiesen haben, ohne dass wir bislang den Mechanismus verstanden haben“, sagt Prof. Maack. Die sogenannten SGLT2-Inhibitoren sind zum Beispiel für die Diabetes-Therapie entwickelt worden, da sie die Ausscheidung von Zucker über die Niere bewirken. Den Mechanismus kennt man gut. Dann hat man aber festgestellt, dass bei Patientinnen und Patienten, die damit behandelt wurden, das Fortschreiten der chronischen Nierenkrankheit verringert wurde, die Krankenhausaufnahmen für Herzinsuffizienz und auch das Risiko an Herz- und Gefäßkrankheiten zu versterben, deutlich geringer war. „Aber wir wissen bis heute noch nicht so genau, warum die SGLT2-Inhibitoren auch bei Nicht-Diabetikern so wirksam bei Herz- und Niereninsuffizienz sind. Da gehen gerade viele Gruppen ins Labor, um zu verstehen, über welchen Mechanismus die SGLT2-Inhibitoren wirken könnten“, sagt der Kardiologe. „Auch diese sogenannte Reverse-Translation ist leider nicht immer so einfach.“
Konnte die Wirksamkeit einer Therapie in Studien nachgewiesen werden, kann sie in die Leitlinien übernommen werden – auch wenn der Wirkmechanismus noch nicht verstanden wurde. Um bei dem Beispiel der SGLT2-Inhibitoren zu bleiben: Mehrere klinische Studien haben gezeigt, dass es auch bei nicht-diabetischen Patientinnen und Patienten mit Herz- oder Niereninsuffizienz seltener zu Krankenhausaufenthalten und Todesfällen aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen kommt. „Und dann übernimmt man diese Ergebnisse recht schnell in die Leitlinien“, sagt Prof. Maack. „Im Prinzip reicht hier ein Vorlauf von etwa einem Jahr.“ Das heißt: Etwa ein Jahr, nachdem Phase-III-Studien die positiven Ergebnisse gezeigt haben, können neue Therapien schon in den Leitlinien stehen.
Manchmal ist die Late Translation, also die Translation von der Leitlinie in die Anwendung, schwierig, weil einige Produkte oder Diagnostikverfahren – trotz guter Wirksamkeit – nicht gut in der klinischen Praxis ankommen. „Wir bleiben noch einmal bei unserem Beispiel mit den Wirkstoffen, die den Abbau von ANP und BNP reduzieren: dem Sacubitril/ Valsartan“, sagt Prof. Maack. „Dieses Medikament senkt den Blutdruck etwas stärker als ein ACE-Hemmer, was sich auch in der Praxis bemerkbar machen kann, was dann manchmal zur Zurückhaltung gegenüber diesem Medikament in den ersten Jahren in der Praxis geführt hat. Dies hat die flächendeckende Anwendung tatsächlich verlangsamt, doch stieg zum Glück mit zunehmenden positiven Erfahrungen der Anwender mit diesem Medikament auch die Aufnahme in die klinische Praxis – bald auch außerhalb der spezialisierten Zentren“, erzählt Prof. Maack. So kommt es dazu, dass es manchmal weitere fünf bis zehn Jahre dauern kann, bis neue effektive Wirkstoffe von Hausärztinnen und Hausärzten regelhaft eingesetzt werden.
„Ich versuche, alle beteiligten Gruppen miteinander im Gespräch zu halten“, sagt Prof. Maack. „Damit die Ideen aus der Grundlagenforschung auch bei den Klinikern ankommen. Sonst arbeiten die zwar mit den neuen Medikamenten, aber verstehen nicht genau, warum die wirken. Und die Grundlagenforschenden – auf der anderen Seite – müssen verstehen: Was ist überhaupt das klinische Problem?“ Gleichzeitig versucht man, die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte über die neuen Therapien zu informieren. „Dann begründen wir im Dialog, warum die eine oder andere neue Therapie eben doch eine Verbesserung bedeutet“, sagt der Kardiologe. „Insgesamt braucht man für diese Arbeit schon einen sehr langen Atem, weil wir oft über Wochen und Monate Experimente durchführen, dann feststellen, dass die nicht funktionieren. In der Folge müssen wir wieder umdenken. Und man hat immer das Gefühl, dass man viel zu langsam vorankommt“, sagt Prof. Maack. „Aber wenn eine neue Therapie oder Diagnostikmethode schließlich in die Anwendung kommt, und man weiß, dass es den Patientinnen und Patienten damit besser geht, sind alle froh: die Forschenden, die Kliniker, die Niedergelassenen – und selbstverständlich und vor allem: die Betroffenen.“