Semaglutid: Dürfen Herzkranke die Abnehm-Spritze erhalten?

Studien zeigen, dass die Abnehm-Spritze mit dem Wirkstoff Semaglutid erstaunliche Erfolge bei der Gewichtsreduktion vorweisen kann. Immer mehr Deutsche setzen das Medikament ein, um Übergewicht loszuwerden. Was Herzkranke über die Abnehm-Spritze wissen müssen und welche Risiken es gibt. 

Von Jana Kolbe

 

07.11.2023

 

Bildquelle (Bild oben): iStock/imyskin

Ist Semaglutid für Herzkranke geeignet?

Seit 2022 ist mit dem Wirkstoff Semaglutid ein Medikament in der EU zugelassen, das erstaunliche Abnehm-Erfolge erzielt. Übergewichtige Menschen, die einmal wöchentlich eine Spritze mit dem Wirkstoff bekommen, nehmen laut Studien bis zu 17 Prozent ihres Körpergewichts ab.

Ursprünglich wurde das Medikament gegen Typ-2-Diabetes entwickelt, da es den Blutzuckerspiegel senkt und die Insulinproduktion ankurbelt. Jedoch haben Studien auch gezeigt, dass es zusätzlich einen großen appetithemmenden Effekt hat. Das könnte auch ein Durchbruch für Herzpatienten und Herzpatientinnen sein.

 

Übergewicht ist einer der größten Risikofaktoren für alle Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Deshalb ist Semaglutid auch für Herzkranke eine Chance, um Gewicht zu verlieren und dadurch Beschwerden beispielsweise bei einer Herzinsuffizienz zu mindern“, sagt Prof. Andreas Zeiher, Distinguished Professor of Cardiology am Institute of Cardiovascular Regeneration und Cardio Pulmonary Institute der Goethe Universität Frankfurt. „Die bisher vorliegenden Studien geben keine Hinweise darauf, dass Herzkranke von der Spritze nicht profitieren können oder zusätzliche unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, die Auswirkungen auf Herzerkrankungen haben könnten“, sagt der Experte.

 

Wie wirkt die Abnehm-Spritze?

Die Abnehm-Spritze mit dem Wirkstoff Semaglutid zählt zu den Glucagon-like Peptide-1-Agonisten, abgekürzt GLP-1 Agonisten. Das Medikament ahmt ein Hormon nach, das eigentlich im Darm produziert wird und eine wichtige Rolle für die Steuerung des Glukosestoffwechsels, also des Zuckerstoffwechsels, einnimmt. Es aktiviert die Absonderung von Insulin und hemmt die Ausschüttung des Hormons Glucagon, wodurch der Blutzuckerspiegel gesenkt wird. Gleichzeitig wirkt das Medikament auch im Gehirn auf den Hypothalamus. Das ist eine Hormondrüse, die für die Steuerung der Hormonausschüttung im ganzen Körper zuständig ist und in der auch das Zentrum für die Appetitregulation liegt. Der Wirkstoff sorgt dafür, dass das Gehirn ein Sättigungssignal aussendet und wirkt auch auf das Belohnungssystem, wodurch die Lust auf sehr fett- und kohlenhydratreiches Essen abnimmt. „Man hat keine Lust mehr, übermäßige Mengen zu essen. Gleichzeitig verzögert der Wirkstoff auch die Magenentleerung in den Darm, wodurch das Sättigungsgefühl verlängert wird“, erklärt Prof. Zeiher. Neben Semaglutid wird derzeit auch an anderen GLP1-Präperaten geforscht: „Diese sollen eine noch stärkere Abnahme ermöglichen, da ihnen ein weiteres Hormon zugesetzt ist, das glukoseabhängige insulinotrope Polypeptid (GIP)“, weiß Prof. Zeiher.

 

Kann Semaglutid das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen verringern?

Prof. Andreas Zeiher erklärt: „Bisher konnten Studien vor allem durch die Abnahme des Gewichts einen positiven Effekt für Herzkranke nachweisen. Bisher gibt es jedoch noch keine veröffentlichte Studie, die an einer großen Patientenzahl den Nachweis erbringen konnte, dass Semaglutid sogenannte ‚harte‘ Endpunkte, also Tod, Herzinfarkt oder Schlaganfall, bei Patientinnen und Patienten mit Herzerkrankungen ohne gleichzeitig vorliegenden Diabetes reduzieren kann. Spannend ist allerdings, dass Semaglutid bestimmte Zytokine reguliert. In Studien konnte man beobachten, dass der Blutwert des C-reaktiven Proteins (CRP) gesunken ist. CRP ist ein Eiweiß, das als Reaktion auf Entzündungen im Körper gebildet wird.“ Diese Zytokine haben einen Einfluss auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Atherosklerose, also die Verengung von Arterien, und können laut Prof. Zeiher auch ein Auslöser für Herzinsuffizienz sein.

 

Gleichzeitig gibt es laut Novo Nordisk, dem Hersteller von Semaglutid, auch Hinweise darauf, dass der Wirkstoff besonders das sogenannte Viszeralfett angreift. Das ist umgangssprachlich als Bierbauch oder „schlechtes Fettgewebe“ bekannt und sammelt sich zwischen den Organen an. „Dieses Fettgewebe trägt zur Zytokin-Produktion bei und erhöht dadurch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sollte sich bestätigen, dass mit dem Wirkstoff genau dieses Fettgewebe abgebaut wird, wäre das ein weiterer Grund, um Semaglutid als Medikament für Herzkranke einzusetzen“, so Prof. Zeiher.

 

Erste Ergebnisse der sogenannten SELECT-Studie des Semaglutid-Herstellers Novo Nordisk legen nahe, dass das Medikament das Risiko für eine schwere Herz-Kreislauf-Erkrankung bei übergewichtigen Menschen ohne Diabetes um bis zu 20 Prozent senken kann. Die Studie wurde noch nicht in einem medizinischen Journal veröffentlicht. Prof. Zeiher: „Die Studie wird erst im November 2023 ausführlich vorgestellt, jedoch deuten die ersten Ergebnisse daraufhin, dass das Risiko für Schlaganfall und Herzinfarkt bei Studienteilnehmern und -teilnehmerinnen mit einem BMI über 27 signifikant verringert werden konnte.“

 

Eine Studie, die im Fachjournal „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht wurde, zeigt außerdem, dass die Symptome von Patienten und Patientinnen mit Herzinsuffizienz (HFpEF-Typ) und einem BMI über 27 durch die Einnahme von Semaglutid deutlich zurückgingen.

Bei dieser Art der Herzinsuffizienz pumpt das Herz nicht mehr ausreichend Blut durch den Körper, obwohl die Pumpleistung eigentlich nicht eingeschränkt ist. Sie kann dazu führen, dass Organe einen Mangel an Sauerstoff sowie Nährstoffen erleiden und letztlich ihre Funktionen verlangsamen oder gar einstellen. Eine der häufigsten Ursachen für die Erkrankung ist die koronare Herzkrankheit, die unter anderem durch erhöhte Blutzucker-, Cholesterin- und Blutdruckwerte, Übergewicht, Bewegungsmangel und Rauchen ausgelöst wird. Die häufigsten Symptome der Herzinsuffizienz sind Kurzatmigkeit und Atemnot, Schwindel, Wassereinlagerungen, Abgeschlagenheit und Müdigkeit.

 

Durch die Behandlung mit Semaglutid konnten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Studie ihr ursprüngliches Körpergewicht um durchschnittlich 13,3 Prozent verringern und die Beschwerden der Herzinsuffizienz im Vergleich zur Placebogruppe signifikant reduzieren. Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen unter Semaglutid die Distanz steigerten, die sie innerhalb von sechs Minuten zurücklegen konnten. „Die Teilnehmer der Studie haben ihr allgemeines Wohlbefinden durch die Therapie höher eingestuft, da sich die Symptome der Herzerkrankung durch die Gewichtsabnahme verringert haben“, erklärt Prof. Zeiher. Er weist jedoch auch daraufhin, dass die Teilnehmerzahl dieser Studie mit rund 500 Patienten und Patientinnen relativ klein war und die Ergebnisse in weiteren Studien überprüft werden müssen.

Prof. Dr. Andreas Zeiher Prof. Dr. Andreas Zeiher, Distinguished Professor of Cardiology, Universität Frankfurt, ehemaliger Direktor der Medizinischen Klinik III am Universitätsklinikum Frankfurt am Main.

Welche Nebenwirkungen kann Semaglutid haben?

„Es gibt keine Hinweise darauf, dass es bei Herzkranken zu besonderen Nebenwirkungen oder Komplikationen kommt. Grundsätzlich ist der Wirkstoff gut verträglich, allerdings muss den Patienten und Patientinnen auch klar sein, dass das dauerhafte Völlegefühl durch die langsamere Magenentleerung zu Beginn der Therapie erstmal unangenehm ist“, weiß der Kardiologe.

 

Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen dauerhafte Übelkeit, dauerhaftes Völlegefühl, Erbrechen, Verstopfungen, Kopfschmerzen und Durchfall. Auch Hautreaktionen an der Einstichstelle, erhöhte Werte der Verdauungsenzyme Amylase und Lipase, Gallensteine, Erschöpfungssyndrom (Fatigue), Schwindel und Geschmacksstörungen können auftreten. „Menschen, die bereits Gallensteine hatten oder bei denen ein erhöhtes Risiko dafür besteht, sollten auf die Spritze eher verzichten“, sagt Prof. Zeiher. In sehr seltenen Fällen kann es zu schweren bis lebensbedrohlichen Nebenwirkungen wie einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse, niedrigem Blutzucker (Hypoglykämie), Nierenproblemen bis hin zu Nierenversagen, Schilddrüsentumoren und -krebs, Sehstörungen (diabetische Retinopathie) und schweren allergischen Reaktionen kommen.

 

Wie bekommen Herzpatienten und Herzpatientinnen die Abnehm-Spritze?

Derzeit werden die Kosten für das Medikament (rund 300 bis 400 Euro pro Monat) nur für Patienten und Patientinnen mit einem Diabetes von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Wird das Medikament zur Gewichtsreduktion eingenommen, müssen Patienten und Patientinnen die Kosten selbst übernehmen und sich ein Privatrezept ausstellen lassen. „Als Diabetes-Medikament ist es in einer geringeren Dosierung von 2 mg zugelassen, als Abnehm-Medikament in einer Dosierung von 2,4 mg. Wenn Herzpatienten und Herzpatientinnen den Wirkstoff aufgrund eines Diabetes verschrieben bekommen, verlieren sie also etwas weniger Gewicht“, erklärt der Herzspezialist.

 

Grundsätzlich können alle Ärzte und Ärztinnen ein Privatrezept für die Abnehm-Spritze ausstellen, die Experten und Expertinnen achten jedoch darauf, dass Semaglutid nur bei Patienten und Patientinnen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 oder mehr angewendet wird. Bei Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck ist auch eine Verschreibung ab einem BMI von 27 möglich. Wichtig ist außerdem, dass Betroffene den behandelnden Medizinern und Medizinerinnen vorab alle bestehenden Herzprobleme mitteilen und Semaglutid nur unter ärztlicher Aufsicht anwenden.

 

Ersetzt die Abnehm-Spritze eine Anpassung des Lebensstils?

„Semaglutid bietet vielen Patienten und Patientinnen, die an Übergewicht leiden, eine gute Abkürzung, um ihr Gewicht zu reduzieren. Rund 70 Prozent sprechen auf die Therapie an. Wer es aufgrund seiner Lebensumstände bisher nicht geschafft hat abzunehmen, kann mithilfe der Abnehm-Spritze endlich sein Risiko für kardio-vaskuläre Erkrankungen senken – das ist ein sehr positiver Effekt, den man nutzen sollte, wenn einem die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen“, betont Prof. Zeiher. Jedoch ersetzt die Spritze langfristig nicht die Anpassung des Lebensstils: „Sobald die Therapie abgesetzt wird, nehmen die Patienten und Patientinnen innerhalb weniger Monate wieder 80 Prozent des verlorenen Gewichts zu. Semaglutid kann ein guter Einstieg sein, um das Gewicht zu reduzieren, langfristig sollten Betroffene jedoch mithilfe von Ernährungsumstellung und Bewegung ihr Gewicht halten. Durch das Medikament gehen auch zehn Prozent Muskelmasse verloren, weshalb körperliche Aktivitäten unbedingt in den Alltag integriert werden sollten“, erklärt der Kardiologe.

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