So hoch ist Ihr Risiko, in den nächsten zehn Jahren am Herzen zu erkranken

Wie groß ist die Gefahr, eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zu bekommen? Mit speziell entwickelten Bewertungssystemen – den Formeln SCORE2 und SCORE2-OP – gibt es Werkzeuge, mit denen sich das Risiko bei bislang herzgesunden Menschen ab 40 Jahren für die nächsten zehn Jahre einschätzen lässt.

Von Silja Klassen

 

07.06.2023

 

Bildquelle (Bild oben): iStock / santoelia

Trotz immenser Fortschritte in der Herzmedizin sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie der Herzinfarkt immer noch Todesursache Nummer eins in Deutschland. Gründe dafür sind neben erblich bedingten Vorerkrankungen vor allem ein ungesunder Lebenswandel mit Risikofaktoren wie Bluthochdruck, zu hohen Cholesterinwerten, Rauchen und starkem Übergewicht.

 

Wie hoch ist das Risiko einer Patientin oder eines Patienten, eine Herz-Kreislauf-Krankheit zu entwickeln? Damit Kardiologinnen und Kardiologen das für die kommenden zehn Jahre präziser einschätzen können, helfen ihnen zwei Bewertungssysteme. Der Risikorechner SCORE2 (steht für „Systematic COronary Risk Evaluation“, auf Deutsch: Systematische Bewertung von Koronarrisiken) kann eine Punktbewertung für Menschen im Alter von 40 bis 69 Jahren erstellen. Mit dem SCORE2-OP (für „Older Persons“, auf Deutsch: ältere Personen) lässt sich das Risiko für Menschen im Alter von 70 bis 89 Jahren errechnen.

Wie entstand der SCORE2 zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen?

Die Bewertungssysteme SCORE2 und SCORE2-OP wurden 2021 von der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) veröffentlicht. Sie helfen, das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, also zum Beispiel eines Herzinfarktes, einzuschätzen. Dafür nutzen sie fünf verschiedene Merkmale beziehungsweise Messgrößen: Alter, Geschlecht, Blutdruck, Non-HDL-Cholesterin (jedes Cholesterin außer HDL) und den Nikotinkonsum.

 

Die Datengrundlage des SCORE2 basiert auf 45 europäischen Studien aus 13 Ländern mit über 670.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. „Da ist von Statistikern eine Riesendatenbank zusammengefasst worden“, sagt Prof. Harm Wienbergen, Leiter des Bremer Instituts für Herz- und Kreislaufforschung. „Für unterschiedliche Länder sind angepasste Risikokalkulationen verfügbar. Deutschland gehört nach diesen Statistiken zu den Ländern mit ‚moderatem‘, also gemäßigtem Risiko.“

Prof. Harm Wienbergen. Prof. Harm Wienbergen, Leiter des Bremer Instituts für Herz- und Kreislaufforschung. Bildquelle: privat

Ist der SCORE2 für jede Patientin und jeden Patienten geeignet?

„Der SCORE2 ist speziell für Menschen gedacht, die bisher keine Erkrankung hatten“, sagt Prof. Wienbergen. „Wenn beispielsweise eine Patientin oder ein Patient ohne Vorerkrankung in eine Praxis kommt, können wir anhand dieses Scores deren persönliches Risiko errechnen. Es ist aber wichtig zu beachten, dass der SCORE2 nicht für spezifische Krankheitsbilder oder individuelle Umstände maßgeschneidert ist, das muss der Arzt beziehungsweise die Ärztin in der Praxis zusätzlich mit einbeziehen.“

 

Der Algorithmus ist nicht sinnvoll für Menschen, die bereits Symptome von Gefäßerkrankungen aufweisen oder einen Herzinfarkt oder einen Hirnschlag erlitten haben. Auch für Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus ist der SCORE2 nicht anwendbar. Bei Menschen mit Diabetes mellitus wird das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung (HKE) immer mindestens als „moderat“ eingestuft, bei einer Dauer der Diabetes von mehr als zehn Jahren oder weiteren Risikofaktoren fürs Herz als „hoch“, bei Organschäden sogar als „sehr hoch“.

 

Auch bei der familiären Hypercholesterinämie liegt bereits ein erhöhtes Risiko vor und ein SCORE2 ist damit nicht aussagekräftig. Die Betroffenen haben genetisch bedingt einen erhöhten Cholesterinspiegel – und damit bereits in jungen Jahren ein hohes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Was kann jeder aus der SCORE2-Tabelle ablesen?

Für eine erste Einschätzung Ihres persönlichen Risikos können Sie den SCORE2-Rechner des Bundesverbands Niedergelassener Kardiologen nutzen. Folgende Hinweise kann der SCORE2 liefern:

 

  • Wenn Sie jünger als 50 Jahre sind und der SCORE2 eine Wahrscheinlichkeit zwischen 2,5 und 7,5 Prozent anzeigt, liegt ein hohes Risiko vor und es sollte eine Behandlung der Herz-Kreislauf-Risikofaktoren erwogen werden.
  • Im Alter von 50 bis 69 Jahren gilt dies bei einem Ergebnis von fünf bis zehn Prozent.
  • Alle Ergebnisse mit noch höheren Prozentzahlen weisen auf ein sehr hohes Risiko hin, das mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin besprochen werden sollte.
  • Ab 70 Jahren liegt grundsätzlich ein erhöhtes Risiko vor. Daher sollte jeder ältere Mensch wenn nötig gut medikamentös eingestellt sein, einen gesunden Lebensstil mit ausreichend Bewegung pflegen und nicht rauchen.
Eine Grafik zeigt das Zehn-Jahres-Risiko für eine Herz-Kreislauf-Krankheit. Mit dem SCORE2 errechnete Zehn-Jahres-Risiken für verschiedene Altersgruppen, an einer Herz-Kreislauf-Krankheit (CVD) zu erkranken oder zu sterben.

Wie zuverlässig ist der SCORE2 hinsichtlich des Risikos von Herz-Kreislauf-Erkrankungen?

Der SCORE2 wurde in großen klinischen Studien bestimmt und hat gezeigt, dass er eine gute Vorhersagekraft für Herz-Kreislauf-Erkrankungen besitzt. „Dennoch ist es wichtig zu bedenken, dass es sich um eine rein statistische Risikobewertung handelt und gegebenenfalls individuelle Faktoren nicht vollständig berücksichtigt werden“, erklärt Prof. Wienbergen. „SCORE2 ist möglichst einfach gehalten, damit eine schnelle Einschätzung des Risikos im Alltag möglich ist. Weitere Risikofaktoren wie zum Beispiel genetisch-familiäre Vorbelastungen oder ein hohes Körpergewicht fließen allerdings nicht in SCORE2 ein. Zudem ist bekannt, dass auch psychosozialer Stress das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen kann. Eine umfassende Beurteilung des individuellen Risikos – über SCORE2 hinaus – durch einen Arzt oder eine Ärztin bleibt deshalb unerlässlich.“

Welche Informationen liefert der SCORE2 für Medizinerinnen und Mediziner?

Ärztinnen und Ärzte erhalten eine Einschätzung des individuellen Risikos ihrer Patientinnen und Patienten für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall. „Der erste Schritt ist ja, dass wir das Risiko des Patienten oder der Patientin abschätzen“, erklärt Prof. Wienbergen. „Das könnte man Pi mal Daumen machen. Aber es ist natürlich besser, wenn es durch gute Datensätze unterfüttert wird. Das ist die Grundlage, wie es die Leitlinien empfehlen – als aktuelle, zurzeit größte und am besten akzeptierte Methode für die Risikoeinschätzung.“

 

Anhand der Risiko-Informationen und einem ausführlichen Patientengespräch können dann gezielte Vorsorge- und Behandlungsstrategien entwickelt werden. „Wir können anhand der Risikoeinschätzung mit den Patientinnen und Patienten Zielwerte besprechen“, sagt Prof. Wienbergen. „Zum Beispiel orientiert sich der Zielwert für das LDL-Cholesterin am individuellen Risiko – und das müssen wir zunächst einmal kennen. Die internationalen Leitlinien geben verschiedene LDL-Cholesterin-Zielwerte für die verschiedenen Risiko-Kategorien vor: Die Menschen mit dem höchsten Risiko haben die niedrigsten Zielwerte.“

 

Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko einer Herz-Krankheit, dagegen sind Menschen machtlos. „Doch den Cholesterinspiegel, das Rauchen und den Blutdruck können wir durch einen gesünderen Lebensstil positiv beeinflussen“, sagt Prof. Wienbergen. „Wer im Katheterlabor tätig ist, weiß, dass die jungen Herzinfarktpatientinnen und -patienten fast immer rauchen.“ Es gilt für alle: Wer auf Tabakkonsum verzichtet, hat bessere Chancen für ein herzgesundes, langes Leben.

 

„Nehmen wir hingegen einen 80-jährigen Mann, der schon lange keinen Sport mehr getrieben hat“, erklärt Prof. Wienbergen. „Er raucht auch schon länger und hat noch nie seinen Cholesterin-Wert kontrolliert. Wenn Sie mich dann fragen, sollte er noch vorbeugen? Lohnt sich das noch? Dann kann ich antworten: Es lohnt sich. Dafür sprechen die Daten. Es ist nie zu spät ist, Gewohnheiten zu ändern und die Lebensspanne zu verlängern.“

Diese Seite teilen