Etwa 8,7 Millionen Deutsche sind an Typ-2-Diabetes erkrankt und damit besonders gefährdet, eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zu entwickeln. Das Risiko ist für die Betroffenen mehr als doppelt so hoch wie bei gesunden Menschen in ihrer Altersgruppe. Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) hat deshalb im „European Heart Journal“ neue Leitlinien veröffentlicht. Sie enthalten Empfehlungen, wie sich das Risiko einer Herz-Kreislauf-Erkrankung bei Patienten und Patientinnen mit Diabetes senken lässt und wie eine solche Erkrankung gegebenenfalls zu behandeln ist. Die Leitlinien richten sich an Ärztinnen und Ärzte, enthalten aber auch wichtige Hinweise für Betroffene.
Menschen mit Typ-2-Diabetes haben ein zwei- bis vierfach höheres Risiko für koronare Herzkrankheiten, Schlaganfall, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern und periphere Arterienerkrankungen als Patienten und Patientinnen ohne Zuckererkrankung. Wenn bei Menschen mit Diabetes eine Herz-Kreislauf-Erkrankung auftritt, ist die Prognose schlechter und auch die Sterblichkeit infolge einer Herzinsuffizienz um 50 bis 90 Prozent höher als bei Menschen ohne Diabetes. Prof. Nikolaus Marx vom Universitätsklinikum Aachen betont als Vorsitzender der Leitlinien-Taskforce: „Daher sind spezielle Empfehlungen für die Prävention und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Patienten und Patientinnen mit Diabetes unerlässlich. Eine interdisziplinäre, patientenorientierte Versorgung ist unerlässlich, um die Morbidität und Mortalität zu senken und die Lebensqualität zu verbessern.“
Um das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verringern, setzen die Experten und Expertinnen in den neuen Leitlinien unter anderem auf systematischeres Screening von Typ-2-Diabetes, die Behandlung mit SGLT2-Hemmern und/oder GLP-1-Rezeptor-Agonisten sowie ein höheres Bewusstsein von Diabetes-Patienten und Patientinnen für die Risikofaktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Außerdem empfehlen die Leitlinien für künftige klinische Studien geschlechtergerechte Rekrutierungsstrategien sowie vorab spezifizierte Analysen, die sich mit Unterschieden zwischen den Geschlechtern befassen, um sicherzustellen, dass Frauen mit Diabetes bei der Behandlung von kardiovaskulären Erkrankungen die gleichen Chancen im Gesundheitswesen erhalten.
Systematisches Screening auf Risikofaktoren
Schätzungen zufolge leiden 25 bis 40 Prozent der Menschen mit einer Herz-Kreislauf-Erkrankung an einer unerkannten Zuckerkrankheit. Da ein Typ-2-Diabetes signifikante Auswirkungen auf die Prognose und Behandlung von Herz-Erkrankungen hat, empfehlen die neuen Leitlinien ein systematisches Screening auf Diabetes bei allen Patienten und Patientinnen mit Herz-Kreislauf-Erkrankung und umgekehrt.
In den Leitlinien wird deshalb der sogenannte SCORE2-Diabetes eingeführt, mit dem das Zehn-Jahres-Risiko für tödliche und nicht-tödliche Herzinfarkte und Schlaganfälle bei Menschen mit Typ-2-Diabetes geschätzt werden kann. Der Score setzt sich aus Informationen zur Diabetes-Erkrankung (Alter bei der Diagnose, Blutzuckerspiegel, Nierenfunktion), sowie aus Informationen zu den Risikofaktoren einer Herz-Kreislauf-Erkrankung (zum Beispiel Alter, Rauchen, Blutdruck, Cholesterin) zusammen und ermöglicht somit das Risiko für Herz-Kreis-Lauf-Erkrankungen individuell einzuschätzen.
Gleichzeitig empfehlen die neuen Leitlinien für Diabetiker und Diabetikerinnen ein systematisches Screening auf Symptome einer Herzinsuffizienz bei jeder klinischen Untersuchung. Dies soll frühzeitig den Einsatz lebensrettender Therapien ermöglichen. Denn: Menschen mit Typ-2-Diabetes haben ein zwei- bis vierfach höheres Risiko, eine Herzinsuffizienz zu entwickeln. Für Diabetes-Patienten und Patientinnen über 65 Jahren wird erstmals auch ein opportunistisches Screening – also eine Untersuchung während eines Arztbesuchs aus einem anderen Grund – auf Vorhofflimmern empfohlen. Das kann durch Pulsmessung oder Elektrokardiogramm (EKG) geschehen. Mit jedem Jahr Dauer der Zuckererkrankung steigt das Risiko für Vorhofflimmern um 3 Prozent und damit gleichzeitig das Risiko für Schlaganfall, Herzversagen und Tod. Die Experten und Expertinnen empfehlen das Screening auch bei unter 65-Jährigen, wenn weitere Risikofaktoren wie Bluthochdruck vorliegen.
So können Diabetes-Betroffene Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorsorgen
Die Leitlinien empfehlen allen Menschen mit Diabetes, regelmäßig den Blutdruck zu messen, um einen Bluthochdruck frühzeitig erkennen und behandeln zu können. So lässt sich das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen senken. Auch Änderungen im Lebensstil können das Risiko für eine Herz-Kreislauf-Erkrankung deutlich mindern. Deshalb empfehlen die Experten und Expertinnen in den Leitlinien, dass Diabetes-Patienten und Patientinnen besonders auf die veränderbaren Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen achten sollten.
- Abnehmen: Menschen mit Diabetes, die an Übergewicht leiden, sollten unbedingt ihr Gewicht reduzieren.
- Ernährungsumstellung: Diabetiker und Diabetikerinnen sollten eine mediterrane oder pflanzliche Ernährung mit einem hohen Anteil an ungesättigten Fettsäuren einführen.
- Ausreichend Bewegung: Körperliche Aktivität sollte täglich in den Alltag integriert werden. Die Leitlinien empfehlen, die Bewegung auf 150 Minuten mäßig intensiver Aktivität oder 75 Minuten intensiver Aktivität pro Woche zu steigern.
- Mit dem Rauchen aufhören: Da Rauchen das Risiko für alle Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich erhöht, raten die neuen Leitlinien, dass alle Menschen mit Diabetes dauerhaft auf das Rauchen verzichten sollten.
Leitlinien empfehlen Medikamente für Diabetes-Patienten
Die neuen Leitlinien empfehlen nun auch, Betroffene mit Diabetes und einer Herzerkrankung mit SGLT2-Hemmer und/oder GLP-1-Rezeptor-Agonisten zur Verringerung des Herzinfarkt- und Schlaganfallrisikos zu behandeln. Große klinische Studien hätten den positiven Effekt der Medikamente auf die Herzgesundheit gezeigt.
SGLT2-Hemmer wurden ursprünglich zur Blutzuckersenkung entwickelt. In Studien konnte jedoch auch ein positiver Effekt auf die Entwicklung einer Herzinsuffizienz nachgewiesen werden. Auch für GLP-1-Rezeptor-Agonisten, zu denen zum Beispiel der ursprünglich als Diabetes-Medikament entwickelte Wirkstoff Semaglutid gehört, konnte in Studien zeigen werden, dass die Medikamente eine positive Auswirkung auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben. Die Therapien sollen künftig unabhängig von der Blutzuckereinstellung und der begleitenden Blutzuckertherapie und zusätzlich zu anderen Standardtherapien (etwa Thrombozytenaggregationshemmern, Bluthochdruckmitteln und Lipidsenkern) eingesetzt werden.
Zudem sollten SGLT2-Hemmer und/oder Finerenon vorrangig auch Typ-2-Diabetes-Patienten und Patientinnen verschrieben werden, die unter einer chronischen Nierenerkrankung leiden, da diese Wirkstoffe das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Nierenversagen zusätzlich zur Standardbehandlung senken. Die Zuckerkrankheit ist weltweit eine der Hauptursachen für chronische Nierenerkrankungen. Bei Patienten und Patientinnen mit Diabetes ist die chronische Nierenerkrankung mit einem hohen Risiko für Nierenversagen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden. Die Leitlinien empfehlen deshalb, Menschen mit Diabetes mindestens einmal jährlich auf chronische Nierenerkrankungen zu untersuchen.