Patientinnen und Patienten, die zum Beispiel nach einem Herzinfarkt keine Fragen stellen und den ganzen Tag ruhig in ihren Betten liegen, erscheinen im stressigen Klinikalltag erst einmal angenehm. Dabei brauchen gerade diese Menschen oft besonders viel Aufmerksamkeit. „Eigentlich muss man nach so einem Ereignis viele Fragen haben“, sagt Prof. Ingrid Kindermann, Kardiologin und Leiterin der Herzinsuffizienz- und Spezial-Ambulanz am Universitätsklinikum des Saarlandes. „Deshalb erkläre ich meinem Team: Wenn sich jemand nach einem beeindruckenden Erlebnis wie einem Herzinfarkt, einer Wiederbelebung oder einer Schockabgabe durch einen Defibrillator zurückzieht, müssen wir wachsam werden!“
Wie zeigt sich eine Depression bei Betroffenen nach einem Herzereignis?
Rückzug, Freudlosigkeit und Antriebslosigkeit sind klassische Anzeichen einer Depression. Es gibt aber auch depressive Menschen, die eher aggressiv reagieren. „Wenn wir in der Klinik depressive Symptome oder Zeichen der Angst bis hin zur Panik erkennen, sprechen wir unsere Patientinnen und Patienten an und fragen: ‚Wie geht es Ihnen? Wie kommen Sie mit Ihrer Erkrankung zurecht? Haben Sie Fragen zu Ihrer Erkrankung, der Therapie und dem weiteren Vorgehen? Schlafen Sie gut? Haben Sie Albträume?‘ Häufig schämen sich die Betroffenen für ihre vermeintliche ‚Schwäche‘ und sind dankbar für unsere Ansprache“, sagt Prof. Kindermann. „Schlafstörungen, Unruhe oder Angst sind häufige Reaktionen auf ein einschneidendes Erlebnis. Betroffene sollten wissen, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind.“
Passiert es häufig, dass Herzkranke psychische Probleme entwickeln?
Viele Menschen entwickeln depressive Symptome oder Angststörungen nach einem kardialen Ereignis. „Studien zeigen, dass zum Beispiel Herzinfarkt-Patientinnen und -Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko haben, an einer Depression zu erkranken“, erklärt Prof. Kindermann. Auch leiden Menschen mit einer Herzinsuffizienz häufig unter Depressionen: Bei schwerer Herzschwäche zeigen bis zu 60 bis 80 Prozent der Erkrankten eine depressive Symptomatik. Und etwa zehn bis 20 Prozent der Betroffenen entwickeln nach einem lebensbedrohlichen kardiologischen Ereignis – also nach einem Herzinfarkt, einer Reanimation oder einer Defibrillator-Entladung – eine posttraumatische Belastungsstörung.
„Wir hatten zum Beispiel einmal einen Patienten, bei dem auf einer Dienstreise im Hotelzimmer eine Entladung seines Defibrillators auftrat“, berichtet Prof. Kindermann. „Der Mann empfand die Schockabgabe als extrem schmerzhaft. In der Folge quälten ihn Ängste – sogar Todesängste. Dazu kamen Schlafstörungen und Alpträume. Zudem hatte er immer wiederkehrende Erinnerungen an diesen Vorfall, bis er sich schließlich kaum noch aus dem Haus traute, um ähnliche Situationen und Erinnerungen zu vermeiden.“
Warum fühlen sich die Betroffenen nicht erleichtert, wenn das erschreckende Ereignis überstanden ist?
„Es gibt Patientinnen und Patienten, die sagen: ‚Ach, ich bin froh, dass ich das gut überstanden habe!‘ Aber oft erklären gerade junge Patientinnen und Patienten, die zum Beispiel einen Herzinfarkt hatten: ‚Jetzt bin ich nicht mehr unversehrt. Ab jetzt bin ich herzkrank.‘ Sie fühlen sich verletzt und geschwächt“, erklärt Prof. Kindermann. Viele Menschen hören nach einem solchen Ereignis ständig in sich hinein: Spüre ich etwas? Bekomme ich wieder einen Herzinfarkt? Schließlich trauen sie sich kaum noch, sich zu belasten und geraten in einen Teufelskreis der Angst. Sie fragen sich: Wie geht es weiter? Welche Lebenserwartung habe ich jetzt noch? Kann ich meinen Beruf überhaupt weiter ausüben?
Wie kann man Herzkranken helfen, damit sie keine psychischen Probleme entwickeln?
„Wir können den Betroffenen nicht das Erlebte nehmen“, sagt Prof. Kindermann. „Aber wir können sie früh auffangen. Manchmal reichen schon drei oder vier Gespräche, um die Ängste zu nehmen. Wichtig ist, dass das nicht zwischen Tür und Angel passiert – dafür muss man sich Zeit nehmen.“ Es gibt auch Patienten-Fragebögen, die dabei helfen, eine psychische Störung zu erkennen. „Und eine frühzeitige Erkennung ist wichtig“, sagt die Kardiologin. „Wenn man ein psychisches Problem nicht bemerkt, kann das zu Folgereaktionen führen – sogar zu einer Verschlechterung der Herzerkrankung.“
Warum können psychische Probleme eine Herzerkrankung verschlechtern?
Die psychische Gesundheit ist eng mit der Herzgesundheit verbunden. Psychische Störungen wie die Depression gelten nicht nur als Risikofaktor für die Entstehung einer Herzerkrankung wie zum Beispiel der koronaren Herzerkrankung, sie können auch deren Verlauf negativ beeinflussen. „Viele Betroffene trauen sich beispielsweise nach einem Herzinfarkt nicht mehr, sich körperlich zu betätigen und vermeiden in der Folge körperliche Belastungen“, erklärt Prof. Kindermann. „Dabei wissen wir, wie günstig sich sportliche Aktivität auf Herzerkrankungen auswirkt.“
Außerdem zeigen Menschen mit psychischen Problemen häufig ein insgesamt ungünstiges Gesundheitsverhalten. „Depressive, antriebsarme Patientinnen und Patienten nehmen zum Beispiel nicht gern regelmäßig Untersuchungen wahr, sie wiegen sich oft nicht regelmäßig oder kontrollieren weniger konsequent Blutdruck und Puls – obwohl sie es eventuell sollten“, erklärt Prof. Kindermann. „Vielleicht nehmen sie sogar ihre Tabletten nicht konsequent ein. Sie treiben tendenziell nicht nur weniger Sport, sie ernähren sich auch ungesünder. Und oft rauchen sie auch weiter. Dieses Gesundheitsverhalten führt zu einer Verschlechterung der Krankheit – und damit verschlechtert sich dann leider auch die Grundstimmung weiter.“
Neben dem veränderten Verhalten führen psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen aber auch zu pathophysiologischen, also auch körperlich krankmachenden Veränderungen. „Zum Beispiel können psychische Faktoren den Blutdruck und Puls beeinflussen oder die Gerinnung, was die Entwicklung einer Herzerkrankung begünstigen oder ein bestehendes Herzleiden verschlechtern kann“, sagt die Kardiologin.
Wie gelingt Menschen mit Herzerkrankung ein gesünderer Lebensstil?
„Oft sind die Patientinnen und Patienten so überwältigt von dem Ereignis, dass sie zunächst die Herzerkrankung als auch die Tragweite mit notwendigen Veränderungen – beispielsweise hinsichtlich ihrer Lebensführung – nicht begreifen“, sagt Prof. Kindermann. Maßnahmen wie zum Beispiel eine Anschlussheilbehandlung in der Reha-Klinik sind daher besonders hilfreich. Hier lernen die Betroffenen unter anderem, wie sie ihren Lebensstil gesünder gestalten können. „Sie können auch an Raucherentwöhnungsprogrammen oder Veranstaltungen zum Stressmanagement teilnehmen. Das hat einen sehr positiven Einfluss auf die Herzgesundheit“, sagt die Kardiologin.
Welche Wirkung hat Stress aufs Herz?
„Gestresste Personen rauchen in der Regel eher, essen mehr und ungesünder und treiben weniger Sport“, sagt Prof. Kindermann. Zudem aktiviert Stress unter anderem das sogenannte sympathische Nervensystem. „Das führt dazu, dass sich die Gefäße verengen, Blutdruck und Puls gehen hoch“, erklärt die Kardiologin. „Desweiteren werden Stresshormone ausgeschüttet und verstärken diese Reaktionen. Schlägt das Herz dauerhaft mit einer Frequenz von 100 Schlägen pro Minute oder mehr, kann das eine Herzschwäche begünstigen. Auch die arterielle Hypertonie – also der Bluthochdruck – ist eine ernstzunehmende Herzerkrankung, die zudem die Entstehung einer Herzinsuffizienz oder einer koronaren Herzerkrankung begünstigt.“ Eine große Studie, die INTERHEART-Studie, konnte zeigen, dass Stress – zum Beispiel im Berufs- oder Familienleben – Einfluss auf die Entstehung eines Herzinfarktes hat.
Wie können sich Kummer oder Schmerz auf das Herz auswirken?
Bei der Frage, wie sich Kummer oder Schmerz auf das Herz auswirken können, ist das sogenannte Broken-Heart-Syndrom zu erwähnen. Auslöser dieser Stresskardiomyopathie sind meist schlimme, psychisch sehr belastende Ereignisse wie der Verlust der Partnerin oder des Partners, ein Unfall, eine Naturkatastrophe oder eine schwere Erkrankung. In sehr seltenen Fällen können sogar freudige Ereignisse wie eine Hochzeit diese besondere Form der Herzschwäche verursachen. „Wir sehen regelmäßig Menschen an der Notaufnahme, die mit den klassischen Symptomen eines Herzinfarktes wie zum Beispiel Brustschmerzen mit typischen EKG-Veränderungen zu uns in die Klinik kommen“, sagt Prof. Kindermann. „Bei der Herzkatheteruntersuchung zeigen sich aber freie Herzkranzgefäße. Dennoch ist die Pumpfunktion des Herzens in einer typischen Weise eingeschränkt. Meist bessert sich dieser Zustand nach 24 bis 48 Stunden wieder.“
Wie kann die Psychokardiologie helfen?
„Ich glaube, dass Herzkranke öfter eine intensivere psychologische Betreuung brauchen – sowohl durch uns Kardiologinnen und Kardiologen als auch durch Kolleginnen und Kollegen aus der Psychologie, Psychotherapie und Psychosomatik“, sagt Prof. Kindermann. Zur Fort- und Weiterbildung dieser Personen bietet die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) einen Kurs „Psychokardiologische Grundversorgung“ an. Dort wird zum Beispiel vermittelt, auf welche Symptome die Behandelnden achten müssen, um depressive Störungen oder Angsterkrankungen zu erkennen und wie man darauf reagieren und helfen kann. „Viele unserer Patientinnen und Patienten geben mir die Rückmeldung, wie sehr ihnen gezielte Gespräche mit ausgebildetem Fachpersonal geholfen haben – manchmal mehr als verschriebene Antidepressiva oder Psychopharmaka. Deshalb ist es mir wichtig, das Thema Psychokardiologie auch wissenschaftlich voranzutreiben und oben genannte Kolleginnen und Kollegen für das Thema zu sensibilisieren.“